Autismus-Spektrum im ICD-11: Die wichtigsten Neuerungen

Die Diagnostik psychischer Störungen erlebt einen Umschwung. Seit dem 01.01.2022 ist die neue internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11) in Kraft getreten, wobei sie jedoch in Deutschland aus lizenzrechtlichen Gründen noch nicht nutzbar und damit noch nicht verbindlich ist. Die neue Klassifikation beinhaltet viele Neuerungen, welche das Diagnoseverständnis bestimmter Störungsbilder grundsätzlich beeinflussen. Darunter fällt auch die […]

Die Diagnostik psychischer Störungen erlebt einen Umschwung. Seit dem 01.01.2022 ist die neue internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11) in Kraft getreten, wobei sie jedoch in Deutschland aus lizenzrechtlichen Gründen noch nicht nutzbar und damit noch nicht verbindlich ist.

Die neue Klassifikation beinhaltet viele Neuerungen, welche das Diagnoseverständnis bestimmter Störungsbilder grundsätzlich beeinflussen. Darunter fällt auch die Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Aktuell gilt nämlich immer noch die ICD-10 (Stand November 2023). Diese stammt aus dem Jahr 1994 und richtet sich nach einem Wissensstand zu Autismus, der aus den 1970er- bis 1980er-Jahren stammt.Dieser Blogpost soll ein grundlegendes Verständnis dafür schaffen, was sich bei der Diagnostik von ASS im ICD-11 ändert. Dafür wird zuerst auf den aktuellen Diagnosestandard eingegangen.

Autismus-Spektrum im ICD-10

In der aktuell gültigen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) werden die Autismus-Spektrum-Störungen im Kapitel F8 “Entwicklungsstörungen” klassifiziert. Spezifischer zählen sie in den Unterpunkt “Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)”.

Dabei gelten folgende Störungsbilder offiziell als Autismus-Spektrum-Störungen: der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), sowie das Asperger-Syndrom (F84.5). Als Kernsymptome für Autismus lassen sich nach dem ICD-10 vorerst die qualitative Beeinträchtigung in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und in den wechselseitigen Kommunikationsmustern nennen. Außerdem besteht ein eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten, auch als repetitives, stereotypes und restriktives Verhalten bezeichnet.

Des Weiteren treten die Symptome einer ASS in der Regel bereits in der frühkindlichen Entwicklungsphase (vor dem 3. Lebensjahr) auf und es bestehen sensorische Anomalien, also Besonderheiten in der Reizempfindung.
Dabei muss jedoch eine Unterscheidung zum atypischen Autismus vorgenommen werden, da dieser sich vom frühkindlichen Autismus entweder durch das Alter bei Krankheitsbeginn oder dadurch, dass die diagnostischen Kriterien nicht in allen genannten Bereichen erfüllt werden, unterscheidet.

Neuerungen im ICD-11

Im ICD-11 werden die Kategorien “F8 Entwicklungsstörungen (F80 –F89)” und “F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90-F98)” (zu letzteren zählt im übrigen auch ADHS) in eine neue Kategorie namens “06 Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen” zusammengefasst.
Dabei zählt Autismus nicht mehr zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, sondern erhält eine eigene, neue Subkategorie. Statt den unterschiedlichen Diagnosen im ICD-10 wird also nun offiziell die Diagnose “ 6A02 Autismus-Spektrum-Störung” mit verschiedenen Unterkategorien eingeführt.
Diagnosekriterien einer ASS sind weiterhin Einschränkungen in dem Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie restriktive, repetitive und unflexible Verhaltensmuster und Interessen.
Das alleinige Vorliegen von sozialen und kommunikativen Einschränkungen gewährleistet laut dem ICD-11 nicht mehr die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung, wie es im ICD-10 im Sinne eines atypischen Autismus möglich war. Anstatt dessen führt die ICD-11 die “soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung (6A01.22)” neu ein. Diese ist charakterisiert durch eine primäre Einschränkung der Pragmatik, also einer dauerhaften und deutlichen Einschränkung, Sprache im sozialen Kontext zu verstehen und zu benutzen. Somit schließt sie genau die Menschen ein, die zwar Einschränkungen in dem Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation erfahren, jedoch ansonsten keine autistische Symptomatik aufweisen.

Des Weiteren ermöglicht die ICD-11 die einfachere „Doppeldiagnose“ einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus-Spektrum-Störung.
In der ICD-10 ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit zugeordnet (F9), während der Autismus unter tiefgreifende Entwicklungsstörungen zu finden ist (F84).

In der ICD-11 werden hingegen beide Störungsbilder, wie bereits erwähnt, unter (06) Mentale-, Verhaltens- oder Neuronale Entwicklungsstörungen gelistet. In der ICD-10 können sich die beiden Störungen gegebenenfalls ausschließen, zum Beispiel wenn nicht genau nachweisbar ist, dass sich das Aufmerksamkeitsdefizit nicht auf den Autismus zurückführen lässt. In der neuen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11) hingegen sind keine ausschließenden Kriterien zu finden. Außerdem öffnet das neue Klassifikationssystem die Beschreibungsmöglichkeit ursächlicher Differenzierungen, wie sie in der ICD-10 nicht möglich waren. Vorher war das ätiologische Verständnis von ASS eher unklar (idiopathisch) oder genetisch-transgenerational. Die ICD-11 hingegen listet auch Umweltfaktoren und neuronale Erkrankungen als Ursachen auf.

Bedeutung der Veränderungen für die Diagnostik von Autismus

Es wird erkenntlich, dass die Veränderungen in der Diagnostik von Autismus das Verständnis der Störung grundsätzlich erweitern. Die Einführung der Diagnose “Autismus-Spektrum-Störung” ermöglicht eine Auffassung der Störung als Kontinuum für verschiedene Varianten des autistischen Syndroms. Dies führt zu einem weniger eingeschränkten, vorbelasteten gesellschaftlichen Umgang mit dem Störungsbild. Vorurteile, was Autismus ist und wie autistische Menschen sich verhalten, werden verringert.
Auch weniger ausgeprägte Varianten einer ASS können nun hinsichtlich derer tatsächlichen Auswirkung auf die Funktionsfähigkeit (psychosoziale Beeinträchtigungen, sekundäre psychiatrische Symptome) beurteilt, eingeschätzt und diagnostiziert werden.
Des Weiteren bietet die ICD-11 durch die breitere Aufstellung des Autismus-Begriffs eine Konsolidierung (Zusammenfassen mehrerer Teile zu einem Ganzen) der Prävalenz (Anteil Betroffener in der Bevölkerung) von ASS-Diagnosen.

In unserer Praxis bieten wir die Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen an. Weitere Informationen zur Diagnostik finden Sie hier:
Autismus-Sprechstunde

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