Autismus zeigt bei Frauen oft eine andere Erscheinungsform als bei Männern, was dazu führen kann, dass die Störung bei Frauen häufig spät oder gar nicht erkannt wird. Bereits im Kindesalter gibt es deutliche Unterschiede in den Autismus-Merkmalen zwischen den Geschlechtern, insbesondere in ihrer Ausprägung.
Warum wird Autismus bei Frauen häufig spät erkannt?
Die Verzögerung bei der Diagnose von Autismus bei Frauen ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Kriterien zur Definition der Störung ursprünglich hauptsächlich an Jungen und männlichen Probanden ausgerichtet wurden. Darüber hinaus herrschte lange Zeit die Annahme, dass Autismus ausschließlich oder vorrangig Jungen betrifft.
Außerdem setzen autistische Mädchen und Frauen oft große Anstrengungen ein, um sich anzupassen und ihr Anderssein zu verbergen, indem sie Verhaltensweisen nicht-autistischer Frauen imitieren und sich in „passende“ Interessensgebiete begeben. Aufgrund ihrer höheren sozialen Kompetenz werden jedoch auch höhere soziale Erwartungen an sie gestellt, die sie aufgrund ihrer Autismusstörung oft nicht erfüllen können. Dies führt häufig zu negativen Reaktionen aus ihrem Umfeld.
Die gesellschaftlichen Erwartungen an das Geschlecht scheinen die Wahrnehmung und das Verhalten von Autistinnen zu beeinflussen. Mädchen mit Autismus werden oft als seltsam, aber nicht als stark beeinträchtigt angesehen. Ihr ruhiges und kontrolliertes Verhalten entspricht eher den gesellschaftlichen Rollenvorstellungen von Frauen als stille oder unschuldige Wesen, was weniger auffällig erscheint und daher nicht unbedingt sofortiges Eingreifen erfordert.
Mit dem Übergang in die Pubertät und das frühe Erwachsenenalter werden Anpassungsstrategien für autistische Frauen zunehmend schwieriger. Die verstärkte Konfrontation mit geschlechtsspezifischen Normen in Partnerschaften oder bei der beruflichen Ausrichtung erfordert höhere soziale Kompetenzen. Dies kann zu Ängsten, Depressionen und anderen psychischen Belastungen führen.
Woran erkennt man Autismus bei Frauen und Mädchen? Wie unterscheidet es sich von dem klassischen Profilbild?
Autistinnen zeigen oft eine stärkere Neigung, über ihre Gefühle zu sprechen, und haben ausgeprägtere körperliche Ausdrucksformen von Emotionen. Sie erleben häufiger emotionale Zusammenbrüche, wie Wutanfälle oder Tränenausbrüche, bedingt durch sensorische Überlastung. Zudem haben sie ein größeres Interesse an Freundschaften und Beziehungen als männliche Autisten und können diese analytisch reflektieren. Obwohl sie auf ihre Umwelt möglicherweise seltsam wirken, passen sie nicht vollständig in die traditionelle Vorstellung von Autismus, da sie sozial oft gut funktionieren.
Typische Autismus-Symptome bei erwachsenen Frauen sind:
Ehrlichkeit/Unverblümtheit: Autistinnen neigen dazu, ihre Gedanken zu einem Thema direkt auszusprechen, was bei anderen manchmal als zu direkt oder verletzend empfunden wird. Sie haben oft Schwierigkeiten, Ironie und Doppeldeutigkeiten zu verstehen und zu verwenden.
Wenig Mimik: Betroffene Frauen haben in der Regel weniger Mimik als die Norm, häufig aber mehr als männliche Autisten.
Befremdliche Wirkung auf andere: Die Kombination aus Ehrlichkeit und wenig Mimik lässt sie häufig kaltherzig oder unfreundlich wirken auf Menschen, die sie nicht kennen.
Monothematische Gespräche: Autistinnen können stundenlang über ihr Lieblingsthema oder ihre Spezialinteressen monologisieren.
Besondere Begabungen und Vorlieben: Autistische Frauen haben oft ein ausgeprägtes Interesse an Naturwissenschaften, Computern und Technologie, sind aber auch häufig musisch oder künstlerisch begabt. Viele Autistinnen haben eine Vorliebe für Sprachen oder kreatives Schreiben, sowie für Filme und Bücher.
Kontroll- und Ruhebedürfnis: Für Autistinnen ist es belastender als für Nicht-Autistinnen, ihre vertraute Umgebung zu verlassen und sich in Gesellschaft anderer, besonders unbekannter Personen, aufzuhalten. Das Gefühl der Kontrolle in vertrauter Umgebung hilft ihnen, Stress abzubauen, ebenso wie feste Gewohnheiten und Rituale, an denen sie oft strikt festhalten. Sie zeigen zwar eingeschränkte oder repetitive Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten, jedoch in geringerem Maße als autistische Männer. Mädchen und Frauen mit Autismus können auch ein erhöhtes Maß an zwanghaftem und selbstverletzendem Verhalten zeigen.
Überforderung in sozialen Situationen: Autistinnen ziehen sich oft bei sozialer oder sensorischer Überlastung zurück. Kleine soziale Zusammenkünfte können sie besser bewältigen als Männer mit Autismus, obwohl sie manchmal ihre soziale Kompetenz spielen müssen, was oft zu Erschöpfung oder Zusammenbrüchen führt.
Das weibliche hochfunktionale autistische Profil ist in diesem Sinne durch eine mildere Ausprägung der autistischen Kernsymptome und stärkere kompensatorische Fähigkeiten im sozialen Verhalten gekennzeichnet. Diese Maskierung, auch als „Camouflage“ bekannt, kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden, wie verbesserte soziale Anpassungsstrategien und weniger auffällige Spezialinteressen. Zudem sind Frauen im Autismus-Spektrum oft besser darin, mimische Ausdrücke zu imitieren und soziale Interaktionsmuster analytisch zu entschlüsseln, was ihr höheres sozial-kognitives Kompensationspotential unterstützt.
Leichtere Ausprägungungen der Autismus-Spektrum-Störung
Autistische Frauen zeigen schon in der Kindheit oft ruhigeres Verhalten und fallen weniger auf als Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Sie ziehen sich häufig in ihre eigene Welt zurück und wirken zunächst schüchtern. Zu den früh erkennbaren Anzeichen gehören starke Reaktionen auf Reize sowie Autostimulation als Stressbewältigung ( z.B. das Gesicht reiben, mit den Fingern schnippen, schaukeln oder mit dem Fuß aufstampfen ) oder körperliche Reaktionen auf Freude und Aufregung wie Springen oder mit den Armen Wedeln.
Im Jugendalter wird ihr Anderssein deutlicher, wenn sie sich den typischen Interessen und Hobbys ihrer Altersgruppe nicht anschließen. Sie können Schwierigkeiten haben, die sozialen Regeln und das Rollenverhalten zwischen den Geschlechtern zu verstehen. Deshalb fallen sie durch unreifes, kindliches und als unpassend empfundenes Verhalten auf. Sie zeigen auch oft einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und Ehrlichkeit. Diese Kombination kann zu Mobbing-Erfahrungen im Teenageralter führen.
Schwierigkeiten von autistischen Frauen
Die Notwendigkeit einer korrekten Diagnose von Autismus wird offensichtlich, wenn man die negativen Auswirkungen betrachtet, die solche Anpassungsbemühungen als auch das Übersehen der Bedürfnisse der Betroffenen mit sich bringen können.
Frauen im Autismus-Spektrum haben oft Schwierigkeiten, soziale Hierarchien zu verstehen, ironische Bemerkungen oder Metaphern richtig zu interpretieren. Dies kann zu Missverständnissen in sozialen Interaktionen und Schwierigkeiten mit Vorgesetzten führen. Sie haben auch Probleme, Mimik, Gestik und Blickkontakt bei anderen zu interpretieren. Diese Schwierigkeiten sind bei Frauen mit Autismus häufiger als bei Männern. Ihr Verhalten und ihre sozio-emotionale Unreife wirken oft merkwürdig und rätselhaft auf andere, was zu großer Isolation führen kann.
Wenn die Anforderungen des Lebens einen bestimmten Schwierigkeitsgrad erreichen, können die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen im Autismus-Spektrum möglicherweise nicht mehr ausreichen, um Kompensationsstrategien zu schaffen. Dieser langanhaltende Stress kann sich in verschiedenen körperlichen und psychischen Symptomen äußern, darunter Migräne, Verspannungen, Ess- und Schlafstörungen, anhaltende Erschöpfung, Ängste und Depressionen. Häufig werden diese Symptome zunächst mit anderen Störungen wie Zwangsstörungen, sozialen Phobien oder oppositionellem Verhalten verwechselt, bevor eine Autismusdiagnose gestellt wird.
Eine frühzeitige Diagnose kann dazu beitragen, viele Herausforderungen und Demütigungen zu vermeiden, denen die Betroffenen auf ihrem Lebensweg begegnen könnten. Sie bildet den Ausgangspunkt für eine angemessene Unterstützung und ermöglicht eine bessere Bewertung ihrer Bedürfnisse in Bezug auf Freizeit, soziale Beziehungen und Beschäftigung.
Einige unterstützende Maßnahmen
Ein besseres Verständnis und eine bessere Diagnostizierung von Frauen mit Autismus ist erforderlich, um sicherzustellen, dass sie Zugang zu der Unterstützung und Behandlung erhalten, die sie benötigen.
Psychoedukation, die detaillierte Informationen über Autismus bereitstellt, ist sowohl für die Betroffenen als auch für ihr Umfeld wichtig, um ein besseres Verständnis für ihre besonderen Bedürfnisse zu entwickeln.
Therapie und Training ermöglichen es den betroffenen Frauen, ihre Sinneswahrnehmung besser kennenzulernen, ihre Grenzen zu verstehen und zu respektieren, soziale Fähigkeiten zu trainieren und anzuwenden.
Eine effektive Behandlungsmöglichkeit können auch Selbsthilfe- und Therapiegruppen für autistische Frauen sein, da der Austausch mit anderen Frauen im Autismus-Spektrum unterstützend und erfüllend sein kann. Durch den gemeinsamen Austausch können sie lernen, wie andere Frauen mit ähnlichen Herausforderungen im Alltag umgehen und Strategien für Freundschaft, Partnerschaft und soziale Probleme entwickeln.
In unserer Praxis bieten wir eine differenzierte Diagnostik von Autismus-Spektrums-Störungen bei Erwachsenen an. Weitere Informationen zum Thema Autismus bei Frauen finden Sie hier: Autismus-Sprechstunde